© – Gunda von Dehn: Trinklied „Süßen Wein und Gerstensaft trinken wir…“

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Erinnerungen an die Ahnenzeit

Ich bin Adda tom Brok, die Frau des mächtigsten Häuptlings der Krummhörn, die Gemahlin von Folkmar Allena von Osterhusen.
Der Gedanke zaubert ein Lächeln auf ihr Gesicht. Die Augenlider noch halbgeschlossen, reckt sich Adda wohlig in ihrem Federbett und ertastet den leeren Platz neben ihr. Schade, dass ihr frisch angetrauter Ehe­mann bereits mit den ersten Sonnenstrahlen aufgebrochen ist, um der Deichschau beizuwohnen. Sie hatte ihn gebeten zu bleiben. Schließlich findet die Deichschau sechs Mal im Jahr statt. Was macht es da schon, sie ein einziges Mal ausfallen zu lassen? Als Antwort hatte Folkmar spöttisch die Lippen geschürzt, wie er es immer tat, wenn Adda wieder mal eine völlig abwegige Idee hatte. Auch das geliebte Grübchen auf seiner linken Wange konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ihrem Drängen nicht nachgeben würde. Sein Sinn für Pflicht und Verantwortung kam dem ihres Großvaters gleich. Addas Großvater, Keno Hilmerisn­a, hätte ihre Worte ebenso brüsk beiseite gewischt, wie Folkmar es getan hatte – und doch hatte ihr Gemahl versprochen, vor Sonnenuntergang wieder zurück zu sein. Und in seinen freundlichen grauen Augen hatte sein Herz gelegen…
Ein leises Geräusch lässt Adda aufhorchen und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Tür.
Hima, die Kindsmagd, lugt mit ihrem gutmütigen Apfelbäckchengesicht durch den Türspalt. Kaum ist sie über die Schwelle getreten, beginnt sie in einem fort zu schwatzen. Ihr Redestrom findet auch kein Ende, als Adda schon lange am Tisch sitzt und die köstlichen Pfannkuchen verputzt. Hima erzählt von einem Steinbeil, welches der Färber beim Ausheben seiner neuen Färbergrube gefunden hat. Witzige Dinge aus ferner Vergangenheit seien zum Vorschein gekommen: kleine Steine, die wie Messer aussehen und noch ganz scharf sind. Damit könne man sogar Leder zertrennen. An dem Stück von dem zerbrochenen Schaft, das der Färber gefunden hat, sei noch eine Speerspitze aus Stein dran festgebunden gewesen. Hima wundert sich: „Witzig, aus Stein. Warum nicht aus Eisen?“
Da Adda darauf nichts erwidert, stellt Hima einen halb zerbrochenen Tonkrug auf den Tisch.
„Igitt! Glaubst du, mich erfreut solch schmutziges, beschädigtes Zeug? Wo kommt das her?“, schimpft Adda wenig begeistert.
„Im Moor, bei den Hünengräbern haben sie das entdeckt.“
Neugierig wirft Adda einen Blick hinein: „Schau, da sind kleine Knochen drin! Igitt Igitt! Wirf das weg!“
„In Walle haben sie einen Pflug gefunden.“
„Wie schön, dann sollen sie ihn hergeben.“
Hima zieht missbilligend eine Augenbraue hoch: „Er ist wohl sehr alt, der Pflug. Der Kaplan hat gesagt, dass er wohl 1000 Jahre alt sein könnte.“
„Tausend Jahre! Viel zu alt. Dann darf der Finder ihn behalten, so hat er zwei Pflüge.“
„Nein, der ist kaputt. Damit kann man nichts anfangen.“
„Warum erzählst du es dann? Wenn es wieder alter Schmuck gewesen wäre, so wie neulich die goldene Sonnenscheibe! Ja, das ist schön! Aber ein oller Pflug…“
Die Stimme ihres Großvaters lässt sie herumfahren: „Oh, da ist er ja.“
„Wer?“, fragt Adda verständnislos.
„Na, der Krug. Der Kaplan will ihn haben. Er sagt, dass er aus heidnischer Zeit stammen könnte.“
„Aus heidnischer Zeit?“, mischt sich die alte Magd leise in den Wortwechsel von Großvater und Enkelin.
„Ja, aus einer Zeit, in der die Kelten hier wohnten. Ihre Priester, die Druiden, konnten in den Sternen lesen, so sagt man“, antwortet Keno geduldig und setzt herausfordernd hinzu: „Heute kann man froh sein, wenn jemand die Schrift lesen kann. Oder kennst du jemanden der heute dazu fähig wäre, die Zukunft mit den Sternen zu deuten, Magd?“
Die Worte treffen Hima bis ins Mark. Sie senkt den Blick mit einer Miene, aus der Demut und Reue sprechen, und schweigt. Als sie nichts erwidert, bohrt Keno weiter: „Du unterlässt doch wohl deine heidnischen Hexenkünste, Kräuterweib?“
Hastig versichert sie ihm: „Ja, Herr, natürlich Herr.“
„Aha“, staunt Adda, die den Krug näher in Augenschein genommen hat und ihn jetzt mit spitzen Fingern zurück auf den Tisch stellt: “Und wo wohnten die Kelten?“
„Der Kaplan meint, dass sie in Utengrahove (Engerhafe) gewesen sind, weil es dort einen Bach, Bäume und einen Hügel gibt. Die heilige Mutter Erde, heilige Bäume und frisches, fließendes Wasser, das brauchten sie für ihre heidnischen Riten, und in unserem Steinhaus…“
„In unserem Steinhaus haben sie gewohnt?“, fällt Hima ihm entsetzt ins Wort.
„Nicht in unserem Steinhaus. Aber da könnte wohl ein keltisches Heiligtum gewesen sein, bevor das Steinhaus gebaut worden ist.“
„Wie kommst du darauf, Großvater?“
„Weil im Giebel ein Widder aus Sandstein eingemauert ist, meint Kaplan Embeco. Der Kriegsgott der Kelten war Teutates, der durch den Widder symbolisiert wurde und dieser Teutates wurde später, als die Römischen Söldner hier gehaust haben, zu Mars, dem Kriegsgott der Römer. So ist das, sagt Embeco. Und ‚Widder‘ nennen wir den Rammbock noch heute.“
„Ach, deswegen ist vorn an jedem Rammbock ein Widderkopf“, murmelt Hima selbstvergessen.
Keno nickt: „Mein Vater hat mich oft auf seinen Schultern durch das alte Steinhaus von Utengrahove getragen, treppauf, treppab… Da konnte ich die Steine ganz oben im Gewölbe mit den Fingern berühren, das war ein ganz besonderes Ereignis. Ich erinnere mich noch gut daran.“ In den Augen des alten Mannes blitzt jungenhafter Charme, als er fortfährt: „Es roch modrig und manchmal saß ein Gefangener unten in dem kleinen Keller.“ Kenos Lachen hat etwas Beunruhigendes: „Spannend, was?“
„Wie alt ist denn unser Steinhaus, Großvater?“
„Ach, wer weiß das? Es war schon alt, als ich noch ein kleiner Bengel war.“
Heftiger Wind heult durch die Burg und die Frauen erstarren, als ein Blitz krachend niederfährt. Der Sturm rüttelt an den Fenstern. Nach einer Weile flüstert Hima: „Hört ihr das? Hufschlag klappert über das Dach. Das ist Radbod. Vielleicht ist das alte Steinhaus eine Burg von unserem Friesenkönig Radbod gewesen und er will sie zurück haben? Der Wilde Jäger macht mir Angst.“
Kenos Stimme poltert beinahe noch schlimmer als der Sturm: „Kinderkram! Das sind die Schiffe im Hafen, die an ihren Ketten zerren. – Radbod kommt bestimmt nicht wieder. Der ist begraben auf seiner heiligen Insel Helgoland.“ – Hima atmet auf, als Keno den Faden einige Nuancen leiser wieder aufnimmt: „Radbod, der König der Friesen…, eigentlich hieß er Redbad, war ein wilder Wikinger, ein Dänenfürst. Radbod wurde damals von den Friesen als Gott verehrt, denn er behauptete, in direkter Linie von Wodan, dem höchsten der nordischen Götter abzustammen. Wie auch immer, sein Reich ist Legende. Wie groß es war, weiß man nicht mehr genau. Der Kaplan meint, dass das friesische Reich ursprünglich größer gewesen ist und weit über die Lauwers (Belgien) hinausging, bevor wir von den Franken besiegt wurden. Es gab wohl – bedingt durch die Eheschließungen der Fürstenhäuser untereinander – einen engen Zusammenhalt zwischen Friesen und Sachsen, denn sie kämpften oft gemeinsam gegen die Franken. Es gab da einen Herzog Widukind aus Sachsen, der führte (782) in einem großen Aufstand Friesen und Sachsen gemeinsam gegen die Franken. Aber letztlich mussten sich doch alle der massiven fränkischen Kriegsmacht unterwerfen und sich taufen lassen.“ Keno seufzte und ein bisschen Wehmut schwang in seiner Stimme, als er fortfuhr: „Der Eroberungskrieg der Franken hat 30 Jahre gedauert, aber letztlich mussten wir gegen die Eroberer und Besatzer unterliegen, denn bei uns gab es kein stehendes Heer. Es waren alles freiwillige Stammesverbände, die sich gewehrt haben. Heute nennen wir Kaiser Karl ‚den Großen‘ (754-814), aber ich weiß nicht recht, ob das wegen seiner Körpergröße so ist, oder wegen seinen ‚großen‘ Taten, von denen ich nicht einzuschätzen vermag, ob sie wirklich so groß waren. Jedenfalls haben alle von ihm unterjochten Völker die ‚Wohltaten‘ Kaiser Karls nicht nur mit viel Blut, sondern auch mit ihrer Eigenständigkeit bezahlt. Der große Karl beherrschte in seinem Reich die gallische Bevölkerung, alle deutschen Stämme und den bedeutendsten Teil von Italien. Der Papst stützte seine Macht und Karl stützte den Papst.
Weil er den enteigneten Fürsten etwas zurückgeben musste, um nicht ständig neue Aufstände zu riskieren, machte Karl sie oder deren Stammhalter zu Bischöfen der neu gegründeten Bistümer. Die Bischöfe von Utrecht, Münster und Bremen belehnte er dann mit friesischem Gebiet. Häufig war das ‚großzügige‘ Lehen vorher ihr Eigentum gewesen. Der damals noch ‚unheilige‘ Liudger wurde zum Missionsleiter von Westsachsen berufen (792) und als Bischof von Münster belehnt mit dem Westen Frieslands. Dazu gehörten Teile jenseits der Ems in der heutigen Grafschaft Holland wie das Humsterland, der Hunsegau, der Fivelgau und der gesamte Emsgau rechts und links der Ems, dazu noch der Federgau und die Insel Bant. Bant muss damals noch ziemlich groß gewesen sein, nun aber wegen der Abholzung und Abgrabung zur Salzgewinnung schrumpft sie zusammen. Eines Tages wird sie wohl im Meer verschwinden.“ Keno lacht gedämpft und fährt fort: „Die Wikinger versuchten über viele Jahre, ihre verlorenen Gebiete von den Franken zurückzuerobern. Lange Zeit ohne Erfolg, aber Kaiser Ludwig der Fromme, der Sohn und Nachfolger von Karl dem Großen, sah sich schließlich gezwungen, den dänischen Kronprätendenten Harald Klak mit Rüstringen, dem Land am linken Ufer der unteren Weser zu belehnen.“
Adda kichert und schiebt den Teller von sich: „Bedeutet Klak nicht Schmutzfleck?“
„Ja, genau. Nichtsdestotrotz war Harald Klak (+844) ein Nachkomme aus dem Königshaus von Radbod. Er soll nahe bei Jever auf der Klakburg gelebt haben. Es gibt dort einen doppelten Ringwall. Wir nennen ihn Kleiburg (heute Woltersberg oder auch Haroldesheim genannt). Haralds Nachfolger war sein Sohn, der berüchtigte Gottfried. Der war weder gottesfürchtig noch friedlich, denn er sah die Friesen als seine Sklaven an. Dieser Gottfried (+873) wurde von Karl dem III. mit ganz Friesland belehnt. Man nannte Karl auch den Dicken oder – noch schlimmer, aber zutreffend, den Einfältigen. Gottfried bekam außerdem noch Gisela, die Tochter von Kaiser Lothar, zur Frau. Damit gehörte Gottfried zur nächsten Verwandtschaft von Karl III. Ha, das war ein Bärendienst, den der Kaiser dem friesischen Volk geleistet hat!“
Keno zieht Addas Teller heran und lässt sich einen Pfannkuchen vorlegen. Draußen bullert die See.
„Das war wohl eine blutige Zeit. Da haben wir es heute besser“, seufzt Adda und scheucht Hima weg, dem alten Häuptling Honig und Butter zu holen. „Sag, Großvater, haben sie die Friesen wirklich als Sklaven verkauft?“
„Das haben sie. In der Bischofschronik von Utrecht steht es geschrieben und auch im Kodex von Rüstringen: Gottfried zwang die Friesen, einen Strick um den Hals zu tragen, damit er sie jederzeit aufhängen konnte. Du lächelst? Du glaubst es nicht? Das hört sich ‚sagenhaft’ an? Glaub es nur, Wicht, mit Sklaven wurde häufig so verfahren, um rasch unterscheiden zu können zwischen denen und den eigenen Leuten. So konnte man tatsächlich ‚kurzen Prozess’ machen, sei es zum Waffendienst, Sklavenverkauf oder eben zur Bestrafung. Häufig erhielten Sklaven obendrein ein Brandzeichen. Besonders hochgestellte Persönlichkeiten mussten manchmal sogar ein Joch tragen, daher der Ausdruck ‚unterjochen‘.“
Adda schüttelt fassungslos den Kopf, den Becher Milch in der Hand. „Und? Haben sie sich das gefallen lassen?“
„Blieb ihnen wohl nichts anderes übrig. Aber irgendwann schlägt das zurück…“
„Wie meinst du das?“
„Nun, als im Jahre des Herrn 884 die Normannen in Friesland einfielen, empfing man sie gebührlich. Man wusste in etwa, wann Gottfrieds Leute die Klepsghilde einfordern würden.“
„Klepsghilde? Ist das eine Steuer?“, fragt Adda und leert den Becher mit einem Zug.
„Ja, Klepsghilde heißt soviel wie Klappergeld. Das kam so: Die Wikinger hatten eine großen Holzkasten, in den das Geld hineingeworfen werden musste. In einem Nachbarraum saß der amtliche Steuereintreiber und horchte auf den Klang des Goldes. Wenn er nun meinte, das wären zu wenig Goldstücke gewesen, dann mussten die Friesen das Doppelte noch einmal bezahlen.“
Mit einem bedächtigen Nicken fordert Adda ihren Großvater auf, weiter zu erzählen.
„Ja, so war das mit der Klepsghilde. –  Das Eintreiben der Steuer lief immer nach demselben Muster ab. Der Wikingerfürst Harald besaß z. B. einen Sitz auf der Insel Walcheren an der Rheinmündung. Der Hauptsitz war aber Utrecht, daneben auch die Burg bei Jever. Es gab überall verstreute Normannenburgen, so dass die Wikinger über Land in einer Tagesreise von einer Burg zur anderen reisen konnten. Der Konrebbersweg, König Redbads (=Radbod) Weg, von Emden zur nahe gelegenen Burg auf der anderen Emsseite war einer dieser wichtigen Verbindungswege. Bei Tributeinziehung wurden aber wohl überwiegend die Wasserwege genutzt. Natürlich blieb es nicht verborgen, wenn die Wikingerscharen sich auf den Weg machten. Man konnte sich also gut darauf vorbereiten. Das bedurfte freilich nicht nur eines guten Nachrichtensystems, sondern auch eines umsichtigen Führers, der vor allen Dingen auch die Verhältnisse an den Nordseegestaden kannte.
Die Bevölkerungsdichte in Ostfriesland war seinerzeit verhältnismäßig hoch und gewiss haben die Sachsen, insbesondere Graf Gerulf als entmachteter Vogt von Friesland, mit Verstärkung nachgeholfen. Graf Gerulf, der seine Vogtei an den Tyrannen Gottfried verloren hatte, war schließlich unmittelbarer Nutznießer, wenn Gottfried abgesetzt wurde.“
„Und? Wie geht es weiter? Haben wir gesiegt?“ Adda hat ganz rote Ohren vor Aufregung.
„Mit über 200 Langbooten sollen die Normannen bei Norden angelandet sein. Zehntausend normannische Feinde sollen den Tod gefunden haben. Rechnet man für jedes dieser Langboote 50 Besatzungsmitglieder, dann wären also alle bis auf den letzten Mann niedergemetzelt worden.“
Bestürzt schnappt Adda nach Luft und wiederholt ehrfürchtig: „Bis auf den letzten Mann niedergemetzelt.“
„Ja, Kleines. Den Sieg über die Normannen aber uns hat niemand anders als der liebe Herrgott geschenkt, so lautet die Sage. Denn während der Schlacht kniete Bischof Rembert in St. Ludgeri von Norden auf einem Stein und betete so inbrünstig um den Sieg, dass Gott ihm ein Zeichen sandte. Das waren seine Knieabdrücke in dem Stein. – Das ist der heutige ‘Warzenstein’, von dem man sagt… Na, was sagt man davon?“ Ein freches Lächeln umspielt seine Lippen.
„Man sagt, dass das Wasser, das sich in Knieabdrücken sammelt, heilend auf Warzen wirkt und sie zum Verschwinden bringt.“
Keno ist zufrieden mit seiner Enkelin. Gedankenverloren legt der alte Richter den Kopf schräg und schaut aus dem Fenster. Die Luft riecht noch immer nach Regen und aufgewühlter Erde, aber der Wind hat sich gelegt und das Gewitter ist weitergezogen. Er lässt den Kopf auf die andere Seite kippen und erzählt weiter: „Kaiser Karl der Dicke überwarf sich nach der Schlacht bei Norden mit Gottfried. Der tyrannische Dänenfürst wurde in eine Falle gelockt und von Gerulf, dem Herzog von Sachsen, ermordet (885). Graf Gerulfs Sohn Dietrich erhielt sodann die Grafschaft Friesland, die zuvor Gottfried beherrscht hatte und heiratete Prinzessin Ragnhild von Friesland, Gottfrieds Tochter. Damit waren die Friesen aus der Sklaverei des Gottfried befreit. Herzog Dietrich war auch Graf im Kennemerland an der Amstel, also der Vorvater der holländischen Grafen und reichsunmittelbarer Fürst. Dadurch konnte er persönlich an Reichstagen teilnehmen. – Von da an war von Heeresfolge und Tributzahlung an die Normannen nicht mehr die Rede.“
„So ist doch alles gut ausgegangen.“ Adda stößt einen erleichterten Seufzer aus. Als Keno aufsteht, kratzen die Beine seines Stuhls über den Fliesenboden.
„Komm, Adda, lass uns schauen, ob der Reisighaufen für das Sonnwendfeuer gut gestapelt ist.“
„Wenn da man nicht alles weggeweht ist“, scherzt Adda und greift übermütig nach Kenos Hand, um ihren Großvater rückwärts hinter sich herzuziehen. Ihr Rücken prallt gegen etwas festes Weiches: ihren Vater. Erschrocken dreht sie sich um und weicht reumütig zurück. Ihmel tom Brok war nicht gerade für seine Nachsicht bekannt. Kindereien waren Adda streng verboten, aber er rügt sie nicht für ihr ungebührliches Verhalten. Stattdessen knüpft er an die letzten Worte von seiner Tochter und Keno an: „Ja, es ist alles weggeweht, aber sie stapeln schon wieder neu, ist schon fast alles fertig.“
Keno meint, dass das Wetter auch wohl wieder besser wird. Das spüre er in seinen Knochen.
„Ich trau deinen Knochen zwar nicht, aber das Wetter ist ja schon wieder besser geworden“, ruft Ihmel seinem Vater lachend hinterher, als der den Raum verlässt. Adda will ihrem Großvater verstohlen folgen, aber Ihmel legt ihr die Hand auf die Schulter. Einen kurzen Moment überlegt sie, ob sie besser flüchten sollte, verwirft den Gedanken jedoch wieder.
„Adda, wo willst du hin?“
Innerlich wappnet sie sich schon gegen eine Rüge, doch als sie ihrem Vater ins Gesicht sieht, tritt eine Zärtlichkeit in seine Züge, von der Adda der Meinung war, sie noch nie vorher an ihm gesehen zu haben.
„Ich möchte, dass du an meiner Seite reitest, wenn das Feuer angezündet wird, du und Folkmar als mein lieber Schwiegersohn.“
Spätabends, als es endlich dunkel ist, werden die Pechtonnen entzündet, die die Ecken des Festplatzes markieren. Hell lodern ihre Flammen auf zum Sternenhimmel, dessen ultramarinblaue Farbtöne an diejenigen des Meeres erinnern. Nur leuchtet der Himmel heute prächtiger als das Meer. Auf der großen Wiese unterhalb der Burg tummelt sich bereits das Jungvolk in fröhlichem Reigen. Feierlich singend, Pechfackeln in den Händen, schreitet das Burggesinde hinunter zur Festwiese. Keno tom Brok führt hoch zu Ross den Zug an, hinter ihm sein Sohn Ihmel mit Tochter Adda und ihrem Gemahl Folkmar Allena. Sie umrunden den Reisighaufen bis sich der Fackelzug ‘in den Schwanz beißt’. Da hebt Keno tom Brok die Hand; die Leute bleiben stehen.
„Eala frya Fresena!”, grüßt der Häuptling und laut schwingt das „Eala frya Fresena!” – ”Oh, freie Friesen!” – getragen von leichter Windbö zurück. Ihmels Schimmel tänzelt erschrocken zur Seite.
Das Volk drängt heran an den Kreis der Fackelträger. Einer der Knechte entzündet feierlich das Johannisfeuer. Zögernd züngeln die Flammen an dem trockenen Reisig empor bis sie sich, entfacht von der lauen Meeresbrise, in glühender Gier in den Holzstoß fressen. Junge Männer machen sich bereit, mit dem Pattstock über das Johannisfeuer zu springen. Funkenspeiend wirft das Feuer seine heiße Lohe in den dunklen Himmel. Die Menge schreit auf, begeistert von diesem herrlichen Anblick. Da bäumt sich jäh Ihmels Hengst auf. Vergebens fischt der Häuptling nach den entglittenen Zügeln. Seine Hände krallen sich in die Mähne. Zwei, drei Mal steigt der weiße Hengst, rast plötzlich in voller Karriere um den Scheiterhaufen herum in die zurückweichende Menschenmauer. Schreckensschreie treiben das Tier zurück. Es dreht sich auf der Hinterhand, sein Reiter stürzt; der Schimmel rast weiter, schleift Ihmel mit sich. Sein Fuß hat sich im Steigbügel verfangen. Schrill wiehernd jagt das Pferd auf den Flammenberg zu, reißt den Häuptling hinter sich her durch das hohe Gras. Mutige Männer springen entschlossen hinzu. Einem der Männer gelingt es, sich an den Hals des Pferdes zu klammern, aber das Tier stürmt ungebremst weiter.
Ein Pfeil schwirrt durch die Luft, bohrt sich in den weißen Leib des Hengstes. Dunkel quillt Blut aus der Wunde. Wild bäumt sich das verletzte Tier auf. Der Mann an seinem Hals verliert den Halt, stürzt, rollt sich blitzschnell zur Seite, um den tödlichen Hufen zu entgehen. – Ein Funkenregen geht nieder. – Das Pferd schießt vorwärts, noch immer den Häuptling mitschleifend. – Erneut zischt ein Pfeil von der Sehne, durchschlägt den Hals des Hengstes. Röchelnd stürzt das getroffene Tier, begräbt Ihmel tom Brok unter sich. Ihmels grauenhafter Schrei übertönt das Weiberkreischen, das Krachen des Holzstoßes, die herausgebrüllten Befehle des alten Keno. In Intervallen schießt Blut aus dem Pferdehals. Das Pferd schlägt wild mit den Hufen, versucht auf die Beine zu kommen, will sich auf den Bauch wälzen, aber es gelingt nur halb, so dass es mit voller Wucht zurückfällt auf Ihmel tom Brok. Grausig gellt sein Schrei in Addas Ohren. Endlich bereitet jemand mit gezieltem Speerwurf dem furchtbaren Todeskampf ein Ende.

Stille – unheimliche Stille – kein menschlicher Laut – kein Nachtvogel – keine Grille – nur Knistern, Puffen, Knacken im Scheiterhaufen. Überstürzt rutscht Adda aus dem Sattel, rennt zu ihrem Vater. Verzweifelt versucht sie, den Pferdeleib wegzudrücken.
„Hilft mir denn niemand! Warum hilft mir niemand?!”, schreit sie. „Mein Vater liegt da drunter! So helft doch! Vater! Vater! Seht ihr denn nicht?!”
Sie deutet mit ihren blutverschmierten Händen auf ein Bein, das unnatürlich abgewinkelt unter dem Pferd hervorragt. Knechte ziehen Ihmel unter dem Pferd heraus. Blut sickert aus dem Ohr…, seine Augen sind weit aufgerissen. Ein Knecht fährt mit der Hand über sein Gesicht. Jemand packt Adda grob am Arm, zieht sie zurück.
„Komm, das ist nichts für dich…, du kannst nichts mehr für ihn tun”, hört Adda eine Stimme sagen. Tränen stürzen über ihr Ruß verschmiertes Gesicht. „Er schläft”, murmelt Adda. „Er schläft, nicht wahr? Er schläft doch?” – „Ja, für immer, Kind.”

Herr Luippe, Priester der schon etwas baufälligen St. Margaretenkapelle von Dykhusen, notierte den Tod von Ihmel tom Brok, Herr von Brookmerland, im Jahre des Herrn 1372 am Tage der Sommersonnenwende, dem 24. Juni. Ebenso vermerkte er die Heimkehr von Ihmels Bruder, Ritter Ocko tom Brok, aus dem Königreich Neapel und als ganz besonderes Ereignis, die Gründung des Klosters Dykhusen im Jahre des Herrn 1377. Damit einher war seine eigene feierliche Erhebung zum Kaplan gegangen. Das hatte ihm den Entschluss leichter gemacht, zugunsten des Klosters auf seinen Grund und Boden zu verzichten. Luippe erhielt überdies etliche Lehen zugesprochen, worauf ihm ein Leben lang Renten zustanden. Hierfür übernahmen Luiward von Westerhusen und Foelke Kampana die Bürgschaft. Der neue Deich, der einen Teil des Sielmönker Busens zudämmte, war gerade fertiggestellt worden. Viel gutes, fruchtbares Land hatte dadurch gewonnen werden können. Das neue Kloster wurde großzügig damit ausgestattet. Die Häuptlinge Ocko tom Brok und Folkmar Allena nahmen das Kloster in ihren Schutz und schworen an heiligem Altar, es mit der Schärfe des Schwertes gegen alle auswärtigen Feinde zu verteidigen. Kaplan Luippe wurde die Aufsicht über das Nonnenkloster übertragen. Das bedeutete gleichzeitig, dass er den Klosterstiftern jährlich Rechenschaft über Einnahmen und Ausgaben ablegen musste.
Am Margaretentag, dem 13. Juli des Jahres 1378, wurde das neue Kloster Dykhusen geweiht. Das war ein Fest für das ganze sechste Seeland! Alles was Beine hatte zu laufen, drängte nach Dykhusen. Mochte auch gerade Heuernte sein, die Weihe des neuen Klosters wollte sich keiner entgehen lassen. So etwas gab es nicht alle Tage zu sehen. Das Fest lockte freilich nicht nur Schaulustige und Gläubige an, sondern ebenso Händler und Gaukler, Musikanten und nicht zuletzt auch zwielichtiges Gesindel. Vor dem neuen Kloster war lediglich eine schmale Gasse zwischen all den Ständen mit mehr oder minder nützlichen Dingen wie Fischsuppe und Tand, Kleintieren und Wahrsagerinnen geblieben, durch die hindurch sich der feierliche Festzug zwängen musste.

An der Spitze der Dominikaner-Mönche von Norden schritt der Oberste des Konvents, Herr Luippe – lang und schmal, mit geröteten Wangen und ebenso geröteter Nase vom vielen Messwein. Es folgten die Augustinerinnen des Klosters Osterrheide am Dollart. Das Kloster hatte vor einiger Zeit ausgedeicht werden müssen, weil Sturmfluten die Gebäude unterspült hatten. Die Nonnen  von Osterrheide sollten von nun an das neue Kloster bewohnen. Die Frauen trugen bereits die weiß-wollenen Kutten des Dominikaner-Ordens.
Hebe, Foelkes Schwester, war nun zur Äbtissin aufgestiegen. Foelke fand, dass Hebe das weiße Gewand viel besser zu Gesicht stand als das schwarze der Augustinerinnen. Sie bewunderte offenherzig den Mut ihrer Schwester, die sogar den Orden gewechselt hatte, aber Hebe erklärte abschwächend, dass die neuen Ordensregeln denjenigen des Augustiner-Ordens sehr verwandt seien und ihr die Umstellung insofern leicht falle.

Marktgerüche vermischten sich mit dem Duft von Weihrauch. Zwischen wackeligen Buden und Holztischen drängten sich die Menschen, jubelnd, den Singsang der Mönche und Nonnen übertönend. Als der Sendbote des Bischofs Florenz von Münster im Ornat des Weihbischofs vorüberschritt, huldvoll und gnädig die Menge segnend, weinten Frauen wie Männer, angerührt von der Feierlichkeit der Stunde.
Die festlich geschmückte Klosterkirche nahm den würdevollen Zug auf. Hunderte von Wachskerzen ergossen ihr gelbes Licht über die Fresken, schienen die Heiligenfiguren zum Leben zu erwecken. Tausende von Blüten verströmten süßen Honigduft. Wunderschöne Blumengebinde schmückten die Altäre, Girlanden aus Tannengrün und Blüten wanden sich empor an den zum Himmel strebenden Pfeilern des Gewölbes. Die an sich schlichte Klosterkapelle war ausgestattet nach italienischem Vorbild und unverkennbar nach des Ritters Wünschen gestaltet. In der Apsis prangten schön gemalt die Wappen der Klosterstifter.
Bis auf den letzten Platz belegt waren die Ehrenstühle der Reichen und Mächtigen des Landes. Deren eichenes Gestühl, kunstvoll verziert mit Schnitzereien und sogar mit feinem Leder gepolstert, und um Verwechslungen und Streitigkeiten zu vermeiden, geschmückt mit dem jeweiligen Familienwappen. Letztlich hatten sie das meiste Geld für den Klosterbau beigesteuert. Also kam es ihnen auch zu, bequem zu sitzen, während das gemeine Volk mit Stehplätzen Vorlieb nehmen musste, da die Kirche üblicherweise nicht mit Bänken ausgestattet war.

Adda Folkmarsna, inzwischen stolze Mutter, hielt ihre zwei Monate alte Tochter im Arm. Sie war hinreichend damit beschäftigt, die kleine Sibbe ruhig zu halten. Dennoch glitt ihr Blick von Zeit zu Zeit zu den Ehrenstühlen hinüber, wo Folkmar – und neben ihm ihr kleiner Sohn Ihmel – Ehrenplätze zugewiesen bekommen hatten. Klein-Ihmel guckte neugierig mit großen blauen Augen rund um sich her, rutschte unruhig auf dem großen Stuhl herum, erkletterte – vom Vater unbemerkt – die Rückenlehne und wäre beinahe auf der anderen Seite hinuntergestürzt, hätte Luiward von Westerhusen ihn nicht im letzten Augenblick noch am Rockzipfel gegriffen. – Irgendwo gluckerte Gelächter. – Luiward von Westerhusen setzte das zappelnde Kind zurück auf den Stuhl. Klein-Ihmel blieb unbeeindruckt von seinem drohenden Zeigefinger. Er rutschte behände von der Sitzfläche hinunter und krabbelte zum Vergnügen aller die Stufen zum Altar hoch bis vor die Beine des Weihbischofs, griff in die Falten des Ornats und… der Bischof lachte, küsste Klein-Ihmel, segnete ihn und trug ihn zu seinem Vater zurück. Geniert murmelte Folkmar Allena irgendwelche sinnlosen Entschuldigungen. Er behielt seinen Sohn nun auf dem Schoß, aber auch das geriet ihm zur Peinlichkeit, da Ihmel keineswegs gewillt war, ruhig sitzen zu bleiben. Im Gegenteil, fröhlich krähend zauste er dem Vater die Haare, küsste ihn schmatzend aufs Auge, weil er die Wange verfehlte, zog ihn an den Ohren… Hilfesuchend schaute Folkmar zu seiner Frau hinüber. Adda schickte daraufhin mitleidsvoll ihre Magd, den Jungen zu sich zu holen.

Als die Weihe des Chores und der Altäre vollzogen war und sich der Gottesdienst seinem Ende näherte, forderte der Archidiaconus Frisiae, so der offizielle Titel des bischöflichen Sendboten, Ritter Ocko auf, die Eidesformel auf dem Altar niederzulegen.

Erwartungsvolle Stille – verhaltenes Räuspern. – Alle Blicke richteten sich auf Ritter Ocko. Sogar jene, die bisher die herrlichen Fresken und bunten Glasfenster bewundert, die aufwendigen Schnitzereien, den Hochaltar und die Heiligenstatuen studiert hatten, die die Kleider der Frauen und deren üppigen Schmuck bestaunt hatten, statt der feierlichen Zeremonie zu folgen; sie alle schauten mit einem Male gespannt auf den Ritter. Der erhob sich gelassen, schritt zum Altar. Hell klangen die goldenen Rittersporen auf dem Mosaik des von ihm gestifteten Fußbodens. Auf Ockos nachtblauem Samtmantel breitete ein goldgestickter Adler seine Schwingen aus. – Gemessen wandte Ocko sich zur Gemeinde um, hob die Schwurhand. – Fürwahr, er sah aus wie ein Fürst! Beherrscht das markante Gesicht! Hell und durchdringend die Augen! Jedem einzelnen schien er bis auf den Grund der Seele zu schauen. Leise fast, aber klar und deutlich drang seine Stimme in jeden Winkel der Kirche.

„Ich bekenne mich zu dem Glauben”, sagte er und ließ seinen Blick über die Menge schweifen, „ich bekenne mich zu dem Glauben, dass mich Gottes Vorsehung mit dem Ritterschwerte hat umgürten lassen…”
Ritter Ocko blieb nicht verborgen, wie über so manches Gesicht ein spöttisches Lächeln flog. Er wusste, was sie dachten: Sie hielten diesen Ritterschlag von den Händen einer Frau für lächerlich, allenfalls für die Belohnung, die ihm die Königin von Neapel für… Liebesdienste hatte zuteil werden lassen. Gerade darum rief er ihnen zu, Gottes Vorsehung habe ihn zum Ritter erhoben! – Mochten die Schwachköpfe dort unten denken, was sie wollten, mochten sie ihm Hochmut anlasten, Eitelkeit vorwerfen, ihn der Anmaßung bezichtigen. Er wollte einen Trennungsstrich ziehen, und damit es auch jedermann verstand, bekannte er noch einmal: „Gottes Vorsehung hat mich vor allem deswegen mit dem Ritterschwert umgürten lassen, damit ich die Unmündigen und Waisen, wie auch die dem göttlichen Dienste geweihten Stätten schütze und sie samt den ihren mit der Schärfe des Schwertes mannhaft gegen alle verteidige, die da trachten, ihnen Unrecht zuzufügen!” So hatte Ritter Ocko zuvörderst seine herausragende Position aufgezeigt. Ob er die übrigen Häuptlinge damit in ihre Schranken verwiesen hatte, sollte die Zukunft zeigen.
 

Unzählige Ereignisse, traurige wie auch glückliche, fanden durch Luippes Feder ihren Weg in den dicken Folianten. Als er verstarb, übernahm Hebe, die Äbtissin des Dominikaner-Klosters Dykhusen, diese Aufgabe. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr füllte sie die Seiten mit Leben und Tod.

Nun, nach mehr als einem halben Jahrhundert, wird die Äbtissin ihren letzten Eintrag in die Chronik schreiben. Ihre Schultern sind gebeugt, ihre Gelenke schmerzen. Das Alter hat ihr asketisches Antlitz mit tiefen Runen gezeichnet. Hebes Finger gleitet zart über die schön gemalten Majuskeln, dann nimmt sie den Gänsekiel zur Hand:
«Viele Erinnerungen habe ich, solche, die meine eigenen sind und solche, die mir erzählt worden sind. Vor vielen Jahrzehnten habe ich begonnen, alles niederzuschreiben. Nun bin ich bald am Ende meines Lebens angelangt. Meine Schwester ist tot, ich bin alt und einsam geworden. Meine Glieder sind krank und schwer, aber einiges will ich noch für die Nachwelt festhalten…»
Für einen Augenblick hält sie inne, dann legt sie die Feder weg. Ihr Blick wandert zum Fenster. Einzelne Sonnenstrahlen drängen sich durch die dichte Wolkendecke, die Luft ist feucht und riecht nach dem Salz der Nordsee. Nonnen huschen wie Schatten über den Klosterhof, der Wind zerrt an ihren Ordensgewändern. Ein Vogel singt sein Lied in der Birke, ein anderer antwortet von fern.
Es waren nicht immer friedliche Zeiten, überlegt die Äbtissin schwermütig und blättert durch die sorgfältig beschriebenen Seiten des Buches, das sie fast ihr ganzes Leben lang begleitet hat. Ehe sie zu lesen beginnt, zieht sie den Kandelaber näher heran und nimmt das Vergrößerungsglas aus geschliffenem Beryllium zu Hand. Ihre Augen sind schwach geworden. Das Lesen bedeutet große Anstrengung für sie:

«Ich habe leider erleben müssen, wie sich aus einem Erbstreit zwischen meinem Schwager, Ritter Ocko tom Brok von Brookmerland und Folkmar Allena von Osterhusen, ein schrecklicher Krieg entwickelte.

Am Ende, nach der Schlacht bei Loppersum im Jahre des Herrn 1379, hatte Ocko die Macht der gegnerischen Häuptlinge zerschlagen. Er setzte damit den Grundstein für die Herrschaft der tom Brok.

Im selben Jahr hat Ritter Ocko tom Brok das Zisterzienser-Kloster Ihlow, die Scola Dei, unter seinen Schutz genommen und auch das davon abhängige Kloster Meerhusen. Auf Wunsch meiner lieben Schwester Foelke befreite Ritter Ocko unser Kloster von der drückenden Last dem Luippe gegenüber, der als Entschädigung 4 Benefizen in Marienhafe, Aurich, Utengrahove und Hinte von Ocko erhielt.

Bald danach übertrug mein Schwager dem Herzog Albrecht von Bayern, Graf von Holland und Herrn von Friesland, seine Besitzungen, um sie als Lehen von ihm zurückzuerhalten. Das gefiel manchem nicht, aber jeder wusste auch, dass Ocko keine andere Wahl hatte, denn der Graf hatte jenseits der Ems schon seine Heerscharen gesammelt, bereit seine Rechte mit Gewalt einzufordern. Schon 1389 (alternativ 1391) wurde Ockos Burg in Aurich von Folkmar Allena belagert. Um eine Einigung herbeizuführen, verließ Ocko den Schutz der Burg. Nach erfolgreicher Verhandlung mit Folkmar Allena, wurde er auf dem Heimweg von unbekannter Hand ermordet.
Ocko hinterließ seinem unmündigen Sohn Keno die Herrschaft. Für ihn übernahmen Widzelt Kenisna und meine Schwester Foelke die Führung der Staatsgeschäfte. Foelke war nach dem Tod ihres Gemahls aber so hoffnungslos trübsinnig, dass sie kaum fähig war, irgendwelche Staatsgeschäfte zu tätigen. Somit hatte Widzelt Kenisna nahezu freie Hand.»
Ja, denkt Hebe bitter, Widzelt hat das voll ausgekostet.

In der nachfolgenden Zeit führte Widzelt eine Reihe von Kriegen. Damit erweiterte er den Machtbereich der tom Brok von der Ems bis hin zur Jade. 1396 nahm er sogar die Likedeeler, die berühmt-berüchtigten Seeräuber, in Marienhafe auf. Daraufhin drohte ihm die Hanse mit erbarmungsloser Vergeltung und so entließ er seine Piraten wieder, obwohl er sie für seine Eroberungen nötig gebraucht hätte.
Hebe versuchte in ihren schriftlichen Aufzeichnungen stets, den Anschein von Neutralität zu wahren, aber ihrer Meinung nach hat Widzelt einen äußert zweifelhaften Charakter gehabt. Nicht einen Finger hatte er gerührt, um seine kleine Nichte Ocka zu rächen. Es reichte Widzelt, dass Hero Attena und sein Sohn Lütet sich unterwarfen und ihm huldigten.
In Hebes Mund breitet sich der metallische Geschmack von Verachtung aus. Lütet Attena hatte seine Gemahlin Ocka beschuldigt, ihn zu betrügen. Für Hebe war das Ganze nur ein Vorwand von ihm, um ungestraft Ockas Mahlschatz einbehalten zu können. Schließlich hätten Lütet und Hero Attena Ocka auch schlicht verstoßen können, ins Kloster stecken, die Ehe annullieren lassen… aber sie ließen Ocka hinrichten. Der Tod durch Steinigung oder die Anwendung des Würgepfahls als ‚humanere‘ Hinrichtungsart waren legitime Strafen für einen Ehebruch – und doch hätte es andere Wege gegeben… dann hätten sie allerdings den wertvollen Mahlschatz von Ocka wieder herausgeben müssen. So musste Ocka im Jahre des Herrn 1397 einen grauenhaften Tod erleiden. Dieses schreckliche Ereignis brachte Hebes arme Schwester Foelke an den Rand des Todes. Sie war lange Zeit schwer krank und suchte Trost im Kloster.
Hebe erinnert sich lebhaft an die Gespräche mit ihrer Schwester, gerade so, als habe Foelke erst gestern neben ihr im Klostergarten gesessen.
Damals habe ich begriffen, dass es das Allerschlimmste auf Erden für eine Mutter ist, ihr Kind zu verlieren, überlegt Hebe; auch noch heute fühlt sie mit ihrer Schwester: Ich glaube, dass niemand einer verzweifelten Mutter helfen kann, nicht einmal Gott und das tägliche Gebet. Manche Wunden verheilen nie….
Hebe bekreuzigt sich. Mit einem tiefen Seufzer schüttelt sie den Kopf, um die traurige Erinnerung an ihre Schwester zu verscheuchen, aber schon die nächste Seite der Chronik bringt eine weitere böse Geschichte ans Licht:
«Im September 1398 bekam Widzelt seinen ersehnten Lehnbrief von Herzog Albrecht von Bayern, Graf von Holland. Wir alle sind heute noch bestürzt, erschüttert und empört, denn der Lehnbrief bezeichnet Widzelt als den Sohn von Ritter Ocko und setzt seine Nachkommen als Erben ein. Graf Albrecht hat damit meinen Neffen Keno aus der Erbfolge getilgt.»

Das war ein weiterer schwerer Schlag für Hebes liebe Schwester, die wieder einmal Trost bei ihr im Kloster suchte. Sie beklagte sich bei Hebe, aber die konnte ihr auch nicht helfen. Niemand konnte ihr helfen.
„Mein Keno ist der Erbe! Er ist Ockos Sohn und der legitime Erbe – nicht Widzelt Kenisna. Welch schäbiger Winkelzug! Der Graf hat uns enterbt und rechtlos gemacht!“, schluchzte sie. „Widzelt Kenisna ist weder Kenos Bruder noch sein Halbbruder. Er ist Kenos Oheim! Du weißt es und jeder andere in unseren Landen weiß es und aus diesem Grunde tragen Widzelts Münzen den Namen ‚Widzaldi Kenisna‘ und nicht ‚Widzaldi Ockonis‘! Widzelts Vatername ist ‚Keno’. Auch Graf Albrecht von Holland weiß das, denn er hat die Münzprägung genehmigt.“  Das war zutreffend. ‚Widzaldi Kenisna’, so stand es in der Legende. – Widzelt, Sohn des Keno (I.), hieß das. – Jeder wusste, dass der Wendische Münzverein pflichtgemäß Namen und Münzrecht strengstens prüfte. Hätte er als Vaternamen ‚Ockonis‘ angegeben, so bestand die Möglichkeit, ihm nicht nur das Münzrecht zu entziehen. Es drohten außerdem auch noch barbarische Strafen, denn das wäre einer Fälschung gleichgekommen. Bewiesen es die Münzen nicht hinreichend? Widzelt war der Sohn von Keno I., Ritter Ockos Vater! Wir wussten, dass eine Vorsprache beim Grafen sinnlos war. Foelke versuchte es dennoch. Ha, war das ein Reinfall! Am Beispiel seiner eigenen Tochter erklärte ihr der Graf, dass es effektiver sei, die gegenwärtige Schwäche der Attena auszunutzen. Graf Albrechts Tochter Johanna war von den Jagdhunden ihres Gemahls, Kaiser Wenzel, zu Tode gebissen worden. Natürlich war es keine Frage, dass der Luxemburger dafür verantwortlich zeichnete, waren es doch seine verhätschelten Jagdhunde gewesen. Seine heiß geliebten Hunde, die er mehr liebte als alles andere auf der Welt, die ständig bei ihm waren, mit ihm im Schlafgemach, ja sogar in seinem Bett schliefen… Indes, Rache hatte Albrecht nicht geübt, jedenfalls nicht so offensichtlich. Er hatte dafür gesorgt, dass nun seines Bruders Tochter Sophie des Kaisers Gemahlin wurde. Damit gelangten er und sein Bruder zu größerer Macht über den Kaiser als je zuvor. Wenn das also keine Rache war? Genauso sollte Widzelt handeln…
Genauso? Das ging ja nicht. Widzelt hatte Ockas Schwester Tetta ja schon Sibrand von Loquard zur Ehe versprochen… Ich sehe ihre Tränen – Foelke weint … sie weint ohne Unterlass… Ich nehme sie in die Arme und fühle, wie sie bebt…
Für Foelkes Sohn Keno II. sollte sich trotzdem schon bald darauf alles zum Besseren wenden. Im April anno 1399 geriet Widzelt mit dem Abt Fulko des Klosters Thedingen in einen Streit; zwar eroberte Widzelt das Kloster, kam aber bald danach durch seine Feinde bei Detern ums Leben. Er erstickte in der Kirche zu Detern, die von seinen Feinden in Brand gesetzt worden war. Weil Widzelt keine legitimen Nachkommen hatte, wurde Keno dann doch noch Widzelts Nachfolger.

Obwohl der Abend noch fern ist, wird es dunkel in Hebes Kammer. Der Himmel trägt jetzt einen undurchdringlichen Trauerschleier aus grauen und schwarzen Wolken. Hebe entzündet einen Kienspan und eine kleine Öllampe, um weiterlesen zu können:

«1406: Kaplan Almer hat mir berichtet, dass Folkmar Allena ein unrühmliches Ende nahm. Er wurde auf hinterlistige Art auf dem Abtritt ermordet. Der niederträchtige Mörder hatte Folkmar in der Kloake aufgelauert und ihm von unten ein Schwert in den Unterleib gerammt. Als Adda ihren Gemahl fand, steckte das Schwert noch in ihm. Dies geschah wohl am 1. September. Der übel riechenden Spur des Mörders konnten die Hunde leicht folgen. Ihmel und Haro, Folkmars Söhne, haben den Schuldigen zu Tode geschleift.

1410: In diesem Jahr hat uns die Pest heimgesucht. Vielleicht ist es die Strafe Gottes für die vielen Kriege, denn sie nehmen kein Ende. Auch Keno ist wieder hineingezogen worden in die Kämpfe zwischen Schieringer und Vetkoper im Groningerland. Es ist eine Sünde, dass sich die Orden der Zisterzienser und Prämonstratenser bis aufs Blut hassen und bekämpfen. Keno steht auf Seiten der Prämonstratenser.

Wir schreiben das Jahr 1413. Meinem tapferen Neffen ist es gelungen, Emden zu erobern und Probst Hisko Abdena zu vertreiben. Hisko ist nach Groningen entflohen. Durch den Fall Emdens ist in Groningen eine Revolution ausgelöst worden. Nun wird Keno in weitere Kriegshandlungen gezwungen.
Seinen entscheidenden Sieg erringt mein Neffe 1416 in der Schlacht bei Oxwerderzyl in der Nähe von Nordhorn. Durch Kenos Sieg bei Nordhorn sind aber die Streitigkeiten zwischen Schieringern und Vetkopern nicht beigelegt, da jene, die aus Groningen und Emden vertrieben worden sind, ihre alte Stellung wiedererlangen wollen. So werden sie von neuem Krieg entfachen. Damit wird Keno wieder in die Wirren jenseits der Ems hineingezogen, weil er fürchten muss, dass bei einem Sieg der Schieringer eine Rückführung seines ärgsten Feindes, Probst Hisko Abdena, nach Emden erfolgen wird.
Keno hat viel erreicht: Das Land zwischen Weser und Lauwers gehört teils zu Groningen, teils ist es der Herrschaft Kenos untertan. Das 6. Seeland zwischen Jade und Ems sowie das 7. Seeland, also Rüstringen, Wangerland und Butjadingerland, hat Keno ebenfalls unterworfen, während Focko Ukena als Kenos Lehnsmann das Overledinger-, Moormer- u. Lengenerland innehat.

Am 16. August im Jahre des Herrn 1417 erliegt Keno einer schrecklichen Kriegsverletzung. Es ist eine Gnade, dass der Herrgott ihn zu sich genommen und von seinen Qualen erlöst hat, aber wieder ist meine liebe Schwester dem Tode näher als dem Leben. Jetzt ist Foelkes Enkel, Ocko II., unser aller Häuptling. Foelke und Focko Ukena von Neermoor haben die Vormundschaft bis zu Ockos Volljährigkeit übernommen. Sie erneuern für Ocko das Bündnis mit den Groningern. Die Verhandlungen hierüber sind am 16. August 1417 zum Abschluss gekommen. Auch Haro Allena, Kenos Neffe und Waffenbruder, ist einer Kriegsverletzung erlegen.»

Hebe erinnert sich, dass im September desselben Jahres König Sigismund die ‚Friesische Freiheit’ bestätigte. Für einige Minuten ist Hebe nicht mehr länger in ihrem Refugium an ihrem Schreibtisch. Vor ihrem geistigen Auge erscheinen die roten Steinwände des Parlatoriums in ihrem Kloster: Kaplan Almer steht vor ihr, seine Ordenstracht schlammbefleckt von der Reise, die faltigen Hände ruhen auf dem rundlichen Bauch. Er wirkt erschöpft, aber in seinen gütigen Augen blitzt es wach und eigensinnig. Er sagt, dass der ‚Freiheitsbrief‘ von Karl dem Großen, der König Sigismund als Urkunde eingereicht wurde, wohl eine Fälschung sei.
„Wieso soll er denn eine Freiheitsurkunde ausstellen, wenn das Wort unter Zeugen vollkommen ausreicht?“, fordert er Hebe heraus, die vielsagend mit den Achseln zuckt, bevor sie sich schließlich zu einer Antwort durchringt: „Dem König kommt es wohl gut zu Pass, wenn er direkten Zugriff auf Friesland hat, wo doch die Gefahr besteht, dass England danach greift.“
Er schenkt ihr das warme Lächeln eines zufriedenen Lehrers: „Es freut mich, dass du nicht so leichtgläubig bist wie die anderen Schafe. Erhaltet dir diese Tugend, meine Tochter.“
Nur mühsam löst sich Hebe von den Erinnerungen an den klugen Kaplan Almer und widmet sich dem nächsten Eintrag:
«Anno 1418: In der Streitsache zwischen den Vetkopern und den Schieringern (Vetkoper = Prämonstratenser / Schieringer = Zisterzienser)  suchen kaiserliche Gesandte zu vermitteln. Während von den Gemeinden vom Oster- und Westergo die Autorität der königlichen Gesandten anerkannt wird, kümmert sich Groningen mit seinen Verbündeten, Ocko tom Brok II. und Focko Ukena nicht um ihre Bemühungen. Aus diesem Grunde erklärt der König über sie die Reichsacht. In der Achterklärung vom 30. November 1419 heißt es, dass ‚…Ocko ten Brok und seine Helfershelfer es nicht nur gewagt haben, den kaiserlichen Befehlen zu trotzen, sondern auch jene, die dem König Gehorsam leisten, mit Krieg arg bedrängen‘.»
Das ist wahr, sinniert Hebe wehmütig, Ocko war zum Erfolg verdammt. Hätte er nicht gesiegt, dann wäre er untergegangen. Aber Ocko und ‚seine Helfershelfer’, im Besonderen Focko Ukena, haben gesiegt: die Schieringer wurden damals so in die Enge getrieben, dass sie um Frieden betteln mussten.    

Als Hebe die Seite umblättert, muss sie einen Moment innehalten, um Atem zu schöpfen und den aufsteigenden Kummer zu vertreiben. Sie weiß nur zu genau, was der nächste Absatz beinhaltet. Sie will nicht weiterlesen, aber es ist, als ob eine unsichtbare Macht sie dazu zwingt:
«Anno 1419: Meine liebe Schwester ist in diesem Jahr ins Himmelreich eingegangen; daran glaube ich von ganzem Herzen. Foelke hat ihr letztes Lebensjahr auf der Burg Hinte verbracht. Sie war eine leidgeprüfte Frau. Mehr Leid kann ein Weib nicht tragen, als sie es tun musste. Von Kenos Tod hat sie sich zuletzt nie wieder richtig erholt. Es ist gut, dass der Herr sie zu sich gerufen hat. Möge ihre Seele ewigen Frieden finden. Amen.»

Hebes Trauer um den Tod ihrer geliebten Schwester wird immer noch überschattet von der Erbitterung über die Verleumdungen, die über Foelke verbreitet wurden, sobald ihr Grab mit Erde gefüllt war. Foelke hatte sich gewünscht, dass ihr Herz bei ihrer geliebten Tochter Ocka begraben wird und ihr Leib auf der Begräbnisstätte der Olde Borg.  Man flüstert hinter vorgehaltener Hand, dass ihr Sarg auf einem schwarz verhüllten Schiff direkt nach Island gefahren und von einem feuerspeienden Vulkan verschlungen worden sei. Seitdem wird sie die ‚Quade Foelke‘ genannt.
Hebe weiß, dass ihre Schwester nicht böse gewesen ist und sie weiß auch, dass Foelke in geweihter Erde ihre letzte Ruhe gefunden hat. Für Hebe ist dieses Gerücht nicht ganz so rätselhaft wie für andere Leute: Nicht zum vulkanischen ‚Eisland’ führte Foelkes letzte Reise, sondern zum Eiland des Prämonstratenser-Klosters auf der Insel Aland und von dort weiter zur Olde Borg.
Foelke hatte Kirchen und Klöster reich beschenkt und auch selbst Wallfahrten unternommen. Die Leute behaupten, sie habe ihre beiden Neffen im Verließ verhungern lassen – nicht nur für Hebe ist das eine niederträchtige Lüge. Ebenso versucht man, Foelke die Hinrichtung von Lütet Attena und dessen Vater Hero als Gräueltat anzuhängen. Gewiss, sie hatten gemeinsam Foelkes Tochter Ocka erschlagen, dennoch hatte Foelke mit ihrer Hinrichtung nichts zu tun. Keno II, Ockas Bruder, war es, der im Jahre 1410 die beiden Mörder dem Henker überantwortete, weil sie verbotenerweise Piraten aufgenommen und für ihre Zwecke genutzt hatten. Eine völlig legitime und angemessene Strafe für ihre Missetaten.
Hebe schließt die Augen, die Hände zum Gebet gefaltet. Nach einer Weile schwinden Trauer und Bitternis aus ihren Gedanken, als würde Rauch durch ein offenes Fenster ziehen. Hebe öffnet die Augenlider, blinzelt die Tränen weg und beugt sich wieder über das große Buch:

«Anno 1420: In unseren Landen wütet erneut die Pest. Wieder Leichen ohne Zahl. Die Menschen fliehen aus den Städten aufs Land. Aber wo sich verstecken? Wie sich retten? Es gibt keine Zuflucht. Fieber werfen die Stolzen wie die Armen nieder. Uns bleibt nur das Gebet.

Frohe Kunde erreichte uns von Foelkes Enkelsohn. Ich bedaure sehr, dass meine liebe Schwester Foelke das nicht mehr erleben konnte. Ihr Enkelsohn Ocko II. hat die Grafentochter Ingeborg von Oldenburg und Delmenhorst geehelicht. Ich wünsche Ihnen Liebe und Gottes Segen!

Im selben Jahr hat Ocko mit Sibbet Papinga von Rüstringen einen Pakt geschlossen. Sibbet Papinga hat Tetta, Ockos Tante, zur Ehe genommen, obwohl er mit seinen 24 Lenzen ein Großteil jünger ist als Tetta. Sie hat bereits einen Mann im Kriege verloren – Brunger von Visquard -, aber sie scheint Sibbet Papinga sehr zugetan zu sein. Tetta und Sibbet haben meine besten Wünsche, auch wenn ich befürchte, dass es Konflikte geben wird. Ocko hat Sibbet Papinga gezwungen, Östringen und Wangerland an ihn abzutreten. Das kam Sibbet bitter, denn es war das Erbe seines Großvaters, das er vor 4 Jahren angetreten hatte. Aber da Sibbet Tetta geheiratet hat, konnte Ocko ihn als seinen Lehnsmann im 7. Seeland einsetzen. Ocko ist es durch geschickte Kriegsführung gelungen, seine Widersacher in die Knie zu zwingen und seinen Machtbereich auszudehnen: Im Westen die Lauwers – im Osten die Weser! Trotz seiner Jugend ist Ocko ein kluger und umsichtiger Häuptling und Kriegsherr.»

Er ist von allen als der gegebene Führer anerkannt, denkt Hebe – nicht ganz ohne Stolz – als sie weiterliest:
«Anno 1424: Ocko und Sibbet Papinga haben mit 120 Schiffen und 4000 Mann einen Kriegszug nach Butjadingen unternommen, um die Bremer zu vertreiben. Das Vorhaben ist ihnen gelungen. Als Ocko Bremen selbst bedrohte, gerieten die Bremer in Angst und Schrecken und schalteten Lübeck und Hamburg zur Vermittlung ein. Es wurde daraufhin eine Tagfahrt nach Oldenburg (Liv.- Est- u. Kurländ. Urk. Buch VII 137, 141, 169) bestimmt. Für die Stadt Bremen war der Friede schmerzhaft, denn sie musste auf jedwede Ansprüche auf friesisches Gebiet verzichten. Die vertriebenen Häuptlinge der Butjadinger Friesen wurden nicht wieder eingesetzt, denn die Bevölkerung soll fortan ihre 16 Richter wieder selber wählen können. Sibbet Papinga konnte es sich aber nicht gefallen lassen, dass man ihn seines Erbes beraubte. Sein verstorbener Vater hatte in Burhave solch eine überragende Machtposition gehabt, dass man ihn sogar in Bremen kurzweg nur den ‚Häuptling der Butjadinger Friesen‘ genannt hatte.
Anno 1425: Wir haben in diesem Jahr wieder eine große Freude erlebt. Schade, dass Foelke nicht mehr unter uns weilt: Ockas Tochter, Foelkes Enkelin Hebe Attena von Norden, hat Uko von Oldersum geheiratet, den Sohn von Focko Ukena. Ich glaube, nun wird mit Gottes Segen alles zum Besten erblühen.

Focko Ukenas Sohn Udo lässt von Norden aus einen neuen Deich nach Osteel ziehen.
1426: Es ist Frühling. Ich habe mich wohl geirrt, wenn ich im vergangenen Jahr geglaubt habe, alles wird sich zum Besten wenden, denn ich hörte, dass Sibbet Papinga Östringen und Wangerland von Ocko zurückfordert. Das meiste Land steht noch unter Wasser, so dass Sibbet noch nicht vorrücken kann, aber er nennt sich bereits wieder Häuptling von Östringen und sammelt Gefährten. Aufgestachelt wurde Sibbet von Focko Ukena, der mit Ocko unzufrieden ist. Die Verbindung entstand nach dem Tod von Tetta durch die Vermählung von Sibbet mit Focko Ukenas Tochter Amke. Es hat den Anschein, als ob Focko Ukena jeden Häuptling von Ostfriesland gegen Ocko aufbringen will.
Der Grund ist einfach: Es ist offenkundig geworden, dass Ocko beim König nachgesucht hat, sein Land in eine Grafschaft umzuwandeln. Ockos gräfliche Verwandtschaft hat ihn dazu ermutigt, der Graf von Oldenburg-Delmenhorst ebenso wie der Erzbischof von Bremen, und Ingeborg, als Grafentochter, sähe es auch nicht ungern, wenn ihr Gemahl zum Grafen aufsteigen würde. Ich sehe, dass diese Maßnahme dringend notwendig ist, um den Frieden zu erhalten und Ockos Stellung zu festigen. Viele andere aber sehen das nicht so und fühlen sich bedroht. Vermutlich wird sich Ockos Begehren ohnehin als unerfüllbar erweisen, weil die ‚Friesische Freiheit‘ dies nicht zulässt, obgleich dieser Vertrag weder von Ocko, noch von einem seiner damaligen Vormünder, denn er war ja zu jener Zeit noch minderjährig, unterschrieben worden ist.

September 1426: Focko Ukena, der Mann, der einen sehr großen Anteil an der Machtentfaltung des Hauses ‘tom Brok’ hat, wendet sich endgültig gegen meinen Großneffen Ocko und belagert seine Burg in Aurich. Kaplan Almer hat mir gesagt, dass Graf Dietrich von Oldenburg 400 Mann zu Fuß und 600 zu Pferde als Entsatz schicken will. Aber das Wetter ist schlecht und so fürchte ich, dass man Ocko nicht zu Hilfe eilen, sondern sich aufs Plündern verlegen wird.

27. September 1426: Wie ich hörte, ist Graf Dietrichs Hauptmann tatsächlich nicht bis nach Aurich vorgedrungen. Trotzdem hat er eine schmerzliche Niederlage erlitten. Der Rückweg des Heeres führte über einen Damm durchs Moor zwischen Detern und Apen. Der Tross kam glücklich hinüber. Während der Heereswurm noch auf dem Damm war, erschien plötzlich Focko Ukena an der Flanke mit nur 50 Mann. Sie fielen die Kolonne an. Bar jeglicher Führung entstand Panik in Graf Dietrichs zahlenmäßig überlegenem Heer, so dass sie letztendlich versagten. Focko Ukenas Leute konnten zum Ende hundert Männer erschlagen und 190 Gefangene mit in die Heimat bringen.
Nun haben Focko Ukena und Sibbet Papinga die Oberherrschaft des Bischofs von Münster, Heinrich II. von Moers, anerkannt, um dessen Waffenhilfe gegen Ocko zu erlangen. Das richtet sich ganz offen gegen Ockos Oldenburgische Verwandtschaft. Immerhin ist der Erzbischof von Bremen ein Verwandter von Ockos Gemahlin Ingeborg von Oldenburg-Delmenhorst.
Ich kenne meinen Bischof. Heinrich II. von Moers ist ein kluger Mann. Er weiß, dass Nikolaus von Delmenhorst, der Erzbischof von Bremen, es nicht kampflos hinnehmen wird, dass man ihm einen Teil seiner Diözese raubt. Drum hat Heinrich von Moers wohl in aller Eile sein marodes Steinhaus unweit der Olde Borg wiederherstellen lassen.
Unter Focko Ukenas Führung bildet sich nun das sogenannte ‚Bündnis der Freiheit’. Die Häuptlinge schließen sich gegen Ocko zusammen. Das ist gefährlich für Ocko. Ich fürchte um sein Leben.»

Hebe umklammert die Tischkante so fest, dass ihre Finger schmerzen. „Welch ein Verrat! Welch ein Hohn! Focko Ukena sagte ‚Freiheit‘ und meinte Knechtschaft. Trotzdem schlossen sich fast alle Häuptlinge gegen Ocko zusammen. Die Menschen sind so dumm“, empört Hebe sich. „In ihrer Blindheit konnten sie Focko Ukena nicht durchschauen und Ockos gute Absichten nicht erkennen: Er wollte doch nicht nur seine Stellung, sondern auch den Frieden sichern!“ Wut steigt in ihr auf und breitet sich aus, bis ihr der Kopf schmerzt und die Buchstaben vor ihren Augen verschwimmen:

«Anno 1427: Am 28. Oktober kam es zur Schlacht bei Upgant auf den Wilden Äckern. Ocko II. wurde von einer schrecklichen Übermacht vernichtend geschlagen.
Focko Ukena hat Ocko gefangen genommen und ins Verließ geworfen.
Die Kennenburg im Brookmerland, man nennt sie auch ‚Olde Borg‘, seit es Ritter Ockos Schloss in Aurich gibt, wurde geschleift. Sie war die gewaltigste Wehranlage in ganz Ostfriesland. Sibbet hat von Focko Ukena Östringen und Wittmund für seine verräterische Waffenhilfe bekommen.»

Mit zitternder Hand sucht die Äbtissin ein erfreuliches Ereignis in den Aufzeichnungen und atmet erleichtert auf, als sie die Seite vom 10. November 1430 aufschlägt:
«Heute hat sich ein ‚Bund der Freiheit‘ gegründet. Mit der Losung ‚frei und friesisch‘ haben sich die ostfriesischen Häuptlinge unter der Führung von Enno Circsena von Greetsiel, einem Onkel von Ocko, gegen Focko Ukena zusammengeschlossen. Sie wissen nun alle, dass Focko Ukena schlechthin der Heger der Seepiraten ist. Man könnte wohl sagen, dass er ihr Hauptmann ist.»

Hebe ist nicht interessiert an den weiteren Geschehnissen. Sie überfliegt den Text:
«König Sigismund hat Ocko am 26. Juli 1431 in den Freiherrenstand erhoben und ihn für Teile Frieslands zum ‚capitaneum generalem‘ (obersten Häuptling) ernannt. Gleichzeitig fordert der König Ockos Untertanen auf, Ocko tom Brok zu gehorchen und beizustehen. Noch befindet sich mein Großneffe Ocko in Ukena‘ scher Gefangenschaft, aber es zeichnet sich ab, dass die Zeit des Leidens für ihn bald ein Ende haben wird. Unglücklicherweise teilte sein Eheweib Ingeborg von Oldenburg-Delmenhorst diese Hoffnung nicht. Kaplan Almer sagt, dass sie am 14. September oder am 4. November an gebrochenem Herzen gestorben ist. Das Leid hat sie zermürbt, sagt er. Sie habe ständig das Bild von Ockos Martyrium in diesem grauenhaften Verließ vor Augen gehabt und es nicht ertragen können. – Gott sei ihrer Seele gnädig.»

Weiter unten steht schließlich in großen Lettern geschrieben:
«Anno 1431: Endlich ist es geschehen! Ocko ist befreit worden! Focko Ukena musste aus seiner belagerten Burg in Leer nach Appingedam fliehen. Das brachte Ocko die Freiheit zurück. Aber er ist schwer krank und scheint trotz seiner Jugend schon vom Tode gezeichnet zu sein.
Anno 1432: Ocko heiratet eine Frau namens Clara. Ich wünsche ihnen alles Glück der Erde und Gottes Segen!»

Jemand klopft an ihre Tür. Das Geräusch reißt Hebe zurück in die Gegenwart. Mit einem Seufzen hebt sie den Kopf, streicht die Falten ihrer Ordenstracht glatt und setzt sich kerzengerade auf, um den unbekannten Besucher zu empfangen. Die Tür wird geöffnet und ein Priester betritt den Raum, aber als er näher kommt erkennt Hebe vertraute Züge in seinem blassen Gesicht.
„Gelobt sei Jesus Christus, liebe Tante“, grüßt er sie herzlich.
„In Ewigkeit. Amen“, vollendet Hebe den Gruß und setzt mit fröhlicher Stimme hinzu: „Tirlingus Ockonis! Nett, dass du mich besuchst. Wie geht es in Norden? Und wie geht es Ocko? Ist er wohlauf?“
„In meiner Pfarrei in Norden ist alles in bester Ordnung.“ Seine Antwort ist freundlich, aber er weicht ihrem Blick aus.
„Ja, das ist schön.“ Hebe spürt schmerzhaft jeden Muskel, während sie sehr langsam aufsteht, um dem Schwindelgefühl zu entgehen. „Und Ocko? Trinkt er fleißig den Tee, den ich ihm gegen seine Wassersucht zusammengestellt habe?“
Tirlingus schaut sie jetzt unschlüssig an, aber er schweigt. – Hebes Gedanken scheinen abzuschweifen. „Ich erinnere mich“, sagt sie leise, „ich erinnere mich noch…, einmal, ich war noch ganz klein, vielleicht sechs Jahre alt, da hat mein Vater mich auf seinen Schultern in die Kapelle getragen. Maria sah auf mich herab und Tränen funkelten in ihren Augen. Da bekam ich große Angst, aber mein Vater erklärte mir, dass der Künstler das gemacht hätte, der die Statue bemalt hatte. Das beruhigte mich, aber anderntags ist mein Vater ermordet worden. Als ich heute Morgen in der Kapelle war, da füllten sich die Augen von Jesus Christus mit Tränen… Tirlingus, sage mir, warum tut er das? Warum weint er? Um wen weint er?“
Der Priester nimmt liebevoll ihre greise Hand und mustert sie, als würden die Antworten darin liegen.
„Schau, dein ist die Weisheit des Alters.“ Seine Stimme nimmt einen sanften, beinahe wehmütigen Klang an: „Du wirst erkennen, um wen Jesus weint.“
„Weint er um meinet Willen? – Nein, das glaube ich nicht… Oh Gott!“ Sie bekreuzigt sich. „Du meinst Ocko?! Er ist, er ist… oh mein Gott, er ist tot.“ Sie entzieht ihm ihre Hand, bekreuzigt sich wieder.
„Ja, das ist er und Clara, seine Frau, mit ihm“, sagt Tirlingus. Seine Stimme klingt heiser und bebt leicht.
„Mögen sie in Frieden ruhen“, bekundet Hebe leise. Sie fragt nicht, woran sie gestorben sind und warum alle beide gleichzeitig. Ocko war ja sehr krank von der Zeit  im Verließ. Und Klara? Vielleicht war es das Brot, denkt sie. Viele sind schon gestorben, weil das Brot nicht gut war.
„Ja, sie werden auf unserer Begräbnisstätte im Kloster von Ihlow beigesetzt“, sagt Tirlingus hölzern. „Wirst du mit mir kommen? Zur Bestattung, liebe Tante? Es wäre… ich würde mich darüber freuen.“
Hebe nickt stumm. Sie versucht Trauer oder Schmerz im Gesicht des Priesters zu entdecken, ein Zeichen, das sie übersehen hat, denn sie weiß, dass er seinen jungen Neffen bewundert und gern gehabt hat. Aber Tirlingus hat von Kindesbeinen an gelernt, sich zu beherrschen. Mit gerunzelter Stirn fragt sie ihn: „Und? Wirst du nun das schwere Erbe antreten?“
„Ich? Nein, ich bin Priester und will es bleiben“, wehrt er ab. „Mit Politik habe ich nichts am Hut.“
„Manchmal kann man dem Schicksal nicht ausweichen, Junge.“
„Ocko hat Enno Circsena auserkoren, das Erbe zu übernehmen.“
„So hat Ocko wahr gemacht, was er mir gesagt hat“, flüstert Hebe mild. „Er wusste, dass du dieses schreckliche Erbe verschmähen würdest. Gott weiß, wie lange noch ein Krieg den anderen jagen wird.“
„Ja, aber die Allena werden wütend sein und die Verwandten von Faldern nicht minder.“
Die Äbtissin nickt: „Ich hatte deinem Vater abgeraten, weil in Kriegszeiten besser auf die Allenas zu setzen ist. Die Circsena sind oft zu zaghaft. Aber er meinte, dass er seinem Onkel Enno die Freiheit verdanke.“ Sie kehrt zurück an ihren Schreibtisch, nimmt still die Feder zur Hand, taucht sie bedächtig in das Tintenfass aus grünem Achat und schreibt in zierlichen Buchstaben:

Anno 1435: Clara und Ocko II. sind gestorben. Ockos Erbe ist testamentarisch übergegangen auf die Circsena von Greetsiel, weil Ocko keine legitimen Erben hat.

Alle meine Lieben haben dieses Jammertal verlassen. Auch ich möchte gehen, denn ich bin müde und alt, uralt. Ich werde es nicht mehr erleben, dass Ostfriesland zur Grafschaft erhoben wird. Aber ich weiß, dass die Circsena gar zu gern Grafen werden möchten. Möge der Herrgott ihrem Streben gewogen sein.
In dieser Stunde ist mir weh ums Herz. Die frohen Stunden, die mir hier in Dykhusen beschieden waren, sollen mir auch im Himmel eine unvergessliche Erinnerung bleiben. Von Herzen bin ich dankbar.

Hebe
Priorisse von Dykhusen
 

Später wird Tirlingus Ockonis in den Folianten hineinschreiben, dass es Ulrich Circsena gelang, gegen Zahlung von 9000 Gulden von Kaiser Friedrich III. zum Grafen in Ostfriesland erhoben zu werden. Damit wurde ihm Ostfriesland von der Ems bis zur Weser als Lehen übertragen. Ganz Ostfriesland bekam er nicht, denn die niederländische Provinz Groningen, die immer zu Ostfriesland gezählt wurde, erhielt er nicht. Aus diesem Grund hieß er auch nicht Graf von Ostfriesland, sondern Graf in Ostfriesland.

Am 23. März 1464 fand die feierliche Belehnung in der Gasthauskirche zu Emden statt.

Es ist wohl die Ironie des Schicksals, dass gerade Theda von Rheide, Focko Ukenas Enkeltochter, zur Reichsgräfin erhoben worden ist, wo Focko Ukena doch Ocko II. viele Jahre eingekerkert hielt, u. a., weil dieser die Erhebung zum Grafen anstrebte. –  Theda (*1431) stammt aus der Ehe von Hebe Attena und Uko von Oldersum, Focko Ukenas Sohn. Nachdem Hebe und Uko von Oldersum 1425 geheiratet hatten, kam es zwischen Focko Ukena und Ocko II. zum Streit wegen der Burg Oldersum, die für beide Seiten von großer Bedeutung war. Das Ganze eskalierte zur Schlacht auf den Wilden Äckern. Danach wurde Ocko von Focko Ukena gefangen genommen, jahrelang eingekerkert und fast zu Tode gepeinigt, weil er beim König nachgesucht hatte, das Land in eine Grafschaft umzuwandeln. Die Circsena und die Ukena sind hoffnungslos verfeindet gewesen. Eine Ehe zwischen den gegnerischen Parteien sollte die Aussöhnung herbeiführen. Aus diesem Grund hat der Papst damals Dispens erteilt und die Ehe von Ulrich Circsena mit Theda, die noch im Säuglingsalter gewesen ist, gestattet. „Zur Erhaltung von Eintracht und Frieden und zur Vermeidung von Krieg und Zwistigkeiten“, wie es in der Urkunde heißt. Als Enno Circsena 1450 gestorben war, trat sein Sohn Ulrich (Ulrich  = Enkel von Doda tom Brok, der Schwester von Ritter Ocko tom Brok; Theda = Urenkelin von Ritter Ocko tom Brok)  die Nachfolge an und wurde 1454 in den Reichsgrafenstand erhoben. So ist das Haus tom Brok trotz aller Widrigkeiten letztendlich doch noch direkt beteiligt an der Gründung des Grafengeschlechts von Ostfriesland. Wundersam, wie sich die Zeiten wandeln…

        Annette Bremen 11.2016David Garrett

Die obige Erzählung wurde verfasst und veröffentlicht in der Broschüre „Geschichte er-leben“ Route 900

(900 Jahre Geschichte im Südbrookmerland) i. A. des Kulturkreises „tom Brook“ Oldeborg e.V.


Hinweis: Roman Chroniken der tom Brook

Band I-IV „Chroniken der tom Brook“ als E-Books bei versch. Anbietern erhältlich

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Band II „Chroniken der tom Brook“ : http://store.kobobooks.com/de-DE/ebook/chroniken-der-tom-brook-1


 Letzte Änderung 05.10.2023