© Musik Gunda von Dehn: „Der Fluß“
Piraterie im Mittelalter – Störtebeker und andere Seeräuber
Wen erfasst es nicht, das Störtebeker-Fieber, wenn die Festspiele auf Rügen und in Marienhafe stattfinden? Aber was weiß man darüber?
Dass Störtebeker Ketten zerreißen konnte und trinkgewaltig war?
Die Legende, dass er – schon ‚kopflos’ – an seinen Kumpanen entlang gelaufen ist, bis der Henker ihm den Richtklotz vor die Füße warf? – (Anm.: Damals wurde „freihändig“ mit dem Richtschwert enthauptet. Ein „Block“ hätte das Richtschwert zuschanden gemacht.) Es ist unmöglich, kopflos von den Knien wieder aufzustehen und loszulaufen.
Und was wissen wir noch? Forschen wir einmal nach.
Störtebeker, der 1401 in Hamburg auf dem Grasbrook mit vielen seiner Gesellen hingerichtet worden sein soll, prägt bis heute das Bild der Likedeeler, obwohl er nicht der eigentliche Kopf der „Gleichteiler“ – so die hochdeutsche Bezeichnung – gewesen ist. Das war Gödeke Michels oder auch Gödeke Wessels genannt (falls wir ein- und dieselbe Person vor uns haben, was bislang noch strittig ist).
Über den berühmt-berüchtigten Seeräuber Nikolaus Störtebeker ist viel geschrieben worden, was erheblich zur Legendbildung beigetragen hat.
Da die ‚Likedeeler’ in der Geschichte des Brookmerlandes und somit der Häuptlingsfamilie tom Brok über einen Zeitraum von fünf Jahren eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, ist es wohl angemessen, darauf einzugehen, denn auch die Likedeeler sind Bestandteil meines Romans „Chroniken der tom Brook“ Band III.
1384 – In einem Vertrag der Hansa mit Heinrich IV. von England werden Gödeke Michael und Störtebeker erstmalig als Freibeuter genannt, da sie englische Schiffe gekapert haben. (Vergl. R. Haklvyt, The Principal Navigations of the Englisch Nation, London 1598)
Schon Ende 1394 erscheinen Freibeuter in einer englischen Klageakte: „Item in the yure 1394 Goddekin Mighel (Gödeke Michels), Clays Scheld, Storbikker (Storbikker = Störtebeker ohne Vornamen!) and others took out of a ship of Elbing.“ D.h. im Jahr 1394 kaperten Gödeke Michels, Klaus Scheld, Störtebeker und andere ein Schiff aus Elbing.
Bis 1399 hören wir abermals in der engl. Klageakte von Michels und Störtebeker.
Gehörten sie zu jenen Vitalienbrüdern, die nach dem Friedensschluss von Falster und Skanör 1395 auf eigene Rechnung fuhren oder waren es Freibeuter anderer Couleur? Waren es friesische Likedeeler? Letzteres ist wahrscheinlich, da die Klagen aus England bis in das Jahr 1384 zurückreichen und nicht erst 11 Jahre später beginnen, nachdem der Friede von Falster und Skanör geschlossen worden ist, der die Vitalienbrüder überflüssig machte und deren Treiben in der Ostsee weitgehend einstellte.
Nachweisbar ist zwischen den Jahren 1395 und 1398, dass geraubte Waren in Bremen angeboten wurden und zwar kamen 35 Piraten mit einer Barke (und einem Schiff auf Reede) in die Wesermündung von Blexen in Butjadingen mit 22 Last Weizen und 12 Last Fisch. Ob es sich bei diesen Piraten tatsächlich um Vitalienbrüder gehandelt hat, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Es gab ja auch noch andere Freibeuter wie zum Beispiel die Likedeeler.
ca. 1395 nimmt der Häuptling Edo Wiemken von Rüstringen Störtebeker und Gödeke Michel in seinem Hafen von Schaar (Wilhelmshaven) auf.
Edo Wiemken hatte einen Schwager mit Namen Papinga, ein Bürgermeister von Groningen. Hat Edo Wiemken seiner Verwandtschaft aus Groningen Asyl geboten? Möglich, denn in Groningen herrschte ein blutiger Kampf zwischen den Vetkopern, welche die Macht in der Stadt inne hatten und den Schieringern, welche die Vetkoper bis aufs Messer verfolgten. Das muss noch näher geprüft werden.
[Wilhelmshaven – Stadtteil Schaar; der Platz, auf dem die Aldeburg (nach dem Neubau der Eden- oder Sibbetsburg „alte Burg“ genannt) ehedem stand, ist heute der Friedhof Aldenburg]Für 1396 ist nachweisbar, dass Piraten Aufnahme bei Konrad Graf von Oldenburg suchten und abgewiesen wurden. Mehr Glück hatten sie im Brookmerland bei Widzelt Kenisna und den Häuptlingen im Emsland.
Schon 1396 haben die Hansestädte den ostfriesischen Häuptlingen gedroht, falls sie Piraten aufnehmen würden. Sie nannten es einen ‚Frevel gegen die Obrigkeit‘! Die Hansen empfahlen den Häuptlingen, die Raubgesellen aus dem Land zu jagen, Häfen und Burgen zu verschließen, die Anführer zu ergreifen und vom Leben zum Tode zu verholen. Bei Zuwiderhandlung drohten die Hansestädte, ‚mit Gottes Beistand‘ gegen die Missetäter und ihre Heger zu ziehen und allem ein endgültig Ende zu setzen. Diese Arroganz muss die Häuptlinge bis auf Blut gereizt haben. Logisch, dass sie sich nicht nach der ‚Empfehlung’ richteten. Als Fürsten behandelte man sie, wenn es darum ging Privilegien herauszuholen, als Fürsten behandelte man sie, indem man ihnen den Zugang zur Hansa verwehrte und in diesem Sendschreiben behandelte man sie wie Lakaien der Hansa. Woher nahmen die Hansen das Recht, einem friesischen Häuptling Befehle zu erteilen?
Erst rissen sie den frs. Handel an sich und nun nannten sie sich frech „Obrigkeit“! Die Häuptlinge sollten Demut üben zu „eigenem Nutz und Frommen!“ Demut sollten sie üben gegenüber den Hansen! Diese Anmaßung war unerträglich! Schon gar für friesische Häuptlinge. Ging es um Geschäfte, waren die Häuptlinge Fürsten und sollten Privilegien erteilen. Andererseits wollten die Hansen ihnen in praxi vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hätten! Sie „empfehlen“ ihnen, Blutgericht zu üben über die Likedeeler! Die Häuptlinge sollten den Hansen Henkersdienste leisten, damit diese sich die Hände nicht beschmutzen mussten! Sie erdreisteten sich sogar, über die Häuptlinge richten zu wollen, wenn sie Likedeeler aufnahmen! Sollten die Häuptlinge sich derartigen Beleidigungen beugen?
Zu Anfang jedenfalls nicht.
1396 räumt Widzelt Kenisna tom Brok den Likedeelern Hafen und Turm des Doms St. Marien in Marienhafe als Stützpunkt ein. Es scheint fast, als wäre diese Maßnahme von Widzelt Kenisna Ausdruck von Widerstand gegen die Hansa gewesen.
Hierbei ist Folgendes zu bedenken, was es höchst unwahrscheinlich macht, dass diese Piraten aus Mecklenburg kamen, wie vorwiegend behauptet wird:
Jeder Sportsegler weiß, dass es schwierig ist, in unbekannten Gewässern zu segeln. Dies trifft um so mehr auf das Mittelalter zu, zumal die damaligen größeren Schiffe (Kogge und Hulk) nur schwer zu manövrieren waren, nur bei günstigem Wind kreuzen konnten, man kaum Seezeichen hatte – mit Ausnahme von Pricken, welche die Wasserläufe notdürftig markierten und auch schnell umgesetzt werden konnten (zur Irreführung). Durch heftige Sturmfluten war die Küste mehr als heute ständig sehr starken Veränderungen, Abweichungen und Umgestaltungen unterworfen. Sandbänke, Inseln, Priele, Watt und Gezeiten erschwerten die Navigation. Diese Probleme gibt es u. a. nur in der Nordsee. Die Ostsee ist ungleich berechenbarer zu befahren. Ein Kapitän der Ostsee konnte nicht ohne Weiteres die Nordsee (damals „Westersee“ genannt) befahren. Noch heute brauchen wir hin und wieder Lotsen für spezielle Aufgaben.
Es ist daher kaum anzunehmen, dass Piraten der Ostsee problemlos in die Nordsee abwanderten, wie das häufig in der Literatur dargestellt wird. Mit diesen schwierigen Schifffahrtsbedingungen konnten am allerbesten die Friesen klar kommen, die das seit Jahrhunderten taten. Nicht ohne Grund hieß die Nordsee einst „Friesensee“.
Drum: Vitalienbrüder und Likedeeler sind als „Brüderschaft“ streng zu trennen, auch wenn gegebenenfalls Vitalier bei den Likedeelern Aufnahme gefunden haben. Das unterstützt die Anschauung, dass der Störtebeker von Wismar nicht jener Johann Störtebeker gewesen ist, der am 15. August 1400 den Kaperbrief von Herzog Albrecht von Bayern Graf von Holland bekommen hat.
Außerdem ist anzumerken, dass der Name „Claus Störtebeker“ erst aufgetaucht ist, nachdem im 17. Jh. ein Autor einen Roman über Störtebeker geschrieben hat.
Friesen sind ehrlich und treu, stolz, eigensinnig und nachtragend schreibt die Dichterin Siever-Johanna Meyer-Abich in ihrem Roman „Foelke Kampana“! Trifft das zu? Ich denke schon, da S.-J. Meyer-Abich eine waschechte Friesin gewesen ist, wird sie es zweifellos gewusst haben.
Geht man hiervon aus, dann hätten die Friesen es nicht geduldet, dass wildfremde Leute aus Mecklenburg in ihrem Land eine führende Rolle spielen, schon gar nicht vogelfreie Piraten, die ihnen unangenehmerweise auch noch die Obrigkeit auf den Hals hetzten. Somit hätten die friesischen Häuptlinge zu Störtebekers Zeit niemals Fremde von irgendwoher in ihr Land gelassen und ihnen überdies auch noch erlaubt, sich häuslich einzunisten. Auch nicht aus Geldgier, wie häufig behauptet wird. Geld war nützlich und stützte die Macht, aber deswegen Fremde hoffieren? Mitnichten! Zurzeit von Keno tom Brok (nach 1399) und danach ergab es sich allerdings, dass die Piraten den Häuptlingen bei ihren Kriegshandlungen Waffenhilfe leisteten. Für etliche Häuptlinge wurde dies zu einem ausschlaggebenden Grund, Piraten aufzunehmen. Allerdings muss verstärkt darauf hingewiesen werden, dass es sich dabei sicherlich in nicht unerheblichem Maße um Verwandtschaft von jenseits der Ems gehandelt haben wird, zumindest, was die führenden Köpfe anbelangt.
1398 bekriegt Herzog Albrecht von Bayern Graf von Holland erneut die Friesen, um sie zu unterwerfen. Diesmal erfolgreich. Oster- und Westergo müssen dem Herzog huldigen und nur der Nordosten behauptet seine Unabhängigkeit. Hier hatte vor allen Dingen Groningen die Friesen unterstützt.
Danach sieht sich der Häuptling Folkmar Allena plötzlich eingekreist von Grafentreuen. Er muss sich unterwerfen und wird Aftervasall, d. h. Vasall von Widzelt Kenisna.
Vom September 1398 datiert der Lehnvertrag zwischen Herzog Albrecht von Bayern, Graf von Holland, sowie Widzelt und Folkmar Allena.
Nun gerät Widzelt Kenisna wegen seiner Piraten ins Visier der Hansa. Er erklärt sich der Hansa und seinem Lehnherrn Herzog Albrecht von Bayern gegenüber bereit, künftig keine Seeräuber mehr in seinen Landen zu dulden.
Holland gehörte seit 1324 den Wittelsbachern durch die Heirat von Kaiser Ludwig d. Bayern (*1282 + 1347) und der Margarete von Holland (*um 1293 +1356). Herzog Albrecht von Bayern war der Sohn von beiden.
Weil die mächtigsten Häuptlinge – Widzelt Kenisna und Folkmar Allena – als Vasallen dem Herzog Albrecht von Bayern Heeresfolge leisten mussten, d.h. Leute unter Waffen halten mussten, begünstigte diese Herrschaftsstruktur in Ostfriesland die Aufnahme der Likedeeler.
Widzelt Kenisna und Folkmar Allena und mit ihnen jene Häuptlinge, die diesen untertan waren, hatten explizit den Auftrag (1398) von Herzog Albrecht von Bayern, die Unterwerfung von Groningen zu bewirken. Für diesen Fall räumte der Herzog ihnen ein, ihm Rat zu erteilen bei der Besetzung der dortigen Administration.
Hisko Abdena (Drost und Probst vom Emden, Statthalter des Bischofs von Münster) nahm u. a. Piraten auf, weil er sich zu Recht durch den Lehnvertrag von Widzelt und Folkmar Allena mit dem Herzog von Bayern bedroht fühlte, da er mit den Groninger Schieringern (Partei der Zisterzienser) im Bunde stand, die gegen Herzog Albrecht kämpften. Mit seiner eigenen Hausmacht konnte Hisko Abdena das ihm gegenüberstehende militärische Potential nicht ausgleichen.
Überdies spielte der frs. Freiheitskampf gegen den Bischof von Utrecht und den Grafen von Holland damit hinein und selbstverständlich auch die Kämpfe zwischen Vetkopern und Schieringern (Prämonstratenser und Zisterzienser).
Die kostenneutralste Lösung war es (auf beiden Seiten), sich der Piraten als Selbstversorger zu bedienen. Sie waren unabhängig, griffbereit, kampferprobt und billiger als Söldner. Die friesischen Häuptlinge boten als Gegenleistung sicheren Unterschlupf und Absatzmärkte für die geraubten Waren.
Ein besonderer Nutzen für Widzelt Kenisna aus seiner Verbindung mit dem Herzog bestand darin, dass der Herzog zwischen Hansa und Widzelt vermittelte. Man bestimmte eine Tagfahrt nach Oldenburg auf den 1. Mai 1399, wo der Herzog von Bayern als Schiedsrichter die strittigen Punkte entscheiden sollte. Diese Tagfahrt wurde indessen wegen Verhinderung der Städte auf den 25. Juli 1399 verschoben. Es kam nicht zum vereinbarten Schiedsgerichtstermin:
Im April 1399 erobert Widzelt Kenisna das befestigte Kloster Thedinga. Widzelt und seine Mannen werden in der Kirche zu Detern durch Heerscharen des Erzbischofs von Bremen und der Bischöfe von Münster und Minden belagert. Die Kirche zu Detern wird niedergebrannt, Widzelt Kenisna und einige seiner Leute kommen darin um. Mit Widzelts Tod ist der Lehnvertrag mit Herzog Albrecht aufgehoben.
Keno II. tom Brok wird Widzelts Nachfolger.
1401: Hamburger haben Störtebeker bei Helgoland gefangen. Er und seine Gesellen werden auf dem Grasbrook in Hamburg enthauptet. Das scheint gesichert.
Damit kann das Piratenwesen aber noch nicht ad acta gelegt werden, das kann erst 1435 nach der Zerstörung der Sibetsburg (Wilhelmshaven, Stadtteil Sibetsburg – Wallanlagen erhalten und begehbar) geschehen.
1435 stirbt nach Jahren der Gefangenschaft in Leermoor auch Ocko tom Brok II. – Sohn und Nachfolger von Keno tom Brok II.
Bild Hinrichtung: Franz Heinemann „Der Richter und die Rechtsgelehrten – Justiz in früheren Zeiten“ Gondrom Verlag Bayreuth
Hinweis: Roman „Chroniken der tom Brook“
Band I-IV „Chroniken der tom Brook“ als E-Books bei versch. Anbietern erhältlich